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Aus Idea-Pressedienst

Was glauben eigentlich messianische Juden? - Ein Besuch bei Gemeinden in Israel

Sie sind in Israel eine ungeliebte Minderheit. In Deutschland beispielsweise werden sie von manchen Kirchenvertretern geschnitten, als dürfte es sie gar nicht geben: die messianischen Juden. Sie glauben an Jesus Christus als Sohn Gottes und Erlöser. Sei rühren damit an ein Tabuthema: Darf man unter Juden missionieren? Sie jedenfalls sind eine Frucht der Judenmission. Welche Rolle spielen sie heute in Israel? Was glauben sie? Waltraud Rennebaum (Burscheid bei Köln) hat prägende Persönlichkeiten der messianischen Gemeinden in Israel besucht.

Das messianische Judentum ist eine eher unauffällige Bewegung, die sich ihren Platz in der israelischen Gesellschaft erst noch erkämpfen muss. Zu ihr gehören schätzungsweise 7'000 Gläubige, die sich auf etwa einhundert Gemeinden verteilen. In allen Ballungsräumen gibt es Gemeinden oder zumindest eine Hauszelle. Dieser geistliche Aufbruch im Land der Bibel ist jedoch ein kompliziertes Thema. Wenn ein Jude Jeschua (hebräischer Name Jesu) als Messias bezeugt, stösst er im eigenen Volk auf Skepsis oder Ablehnung.

Ein Holocaustüberlebender

Am ersten Abend in Jerusalem treffe ich Zvi Kalisher, einen Holocaustüberlebenden aus Polen. Er erzählt seine erschütternde Lebensgeschichte. Im Alter von zehn Jahren wird er von seinen Eltern getrennt; vergeblich sucht er nach ihnen im Warschauer Ghetto. Durch einen schlichten Bibelvers findet er schliesslich zum Glauben an Christus: „Denn Vater und Mutter haben mich verlassen, aber der Herr nimmt mich auf.“ (Psalm 27,10) Auch sein Sohn Meno Kalisher ist Jesus-gläubiger Jude und leitet die Gemeinde Beit Ge’ula (Haus der Erlösung). Er widmet sich besonders der Evangelisation in Israel. Auch im Internet sieht er eine Möglichkeit, Jesus bekanntzumachen. Die Besucher seiner Internetseite können das Evangelium kennenlernen, Antwort auf ihre Fragen erhalten, und sie können kostenlos eine komplette Bibel beziehen. Er betont: „Unsere Identität als Gläubige kommt nicht durch jüdische Traditionen im Gottesdienst, z. B. eine Kippa (Kopfbedeckung religiöser Juden). Das hat nur draussen vor der Tür Platz! Allein die Bibel gibt uns Frieden ins Herz.“ Mit dieser Überzeugung ist es gewiss nicht leicht, Juden für die Gute Nachricht zu gewinnen. In Israel zu evangelisieren ist ohnehin heikel.

Wenig Verständnis

Viele der älteren Generation in Israel haben unter den Nationalsozialisten oder Pogromen in der ehemaligen Sowjetunion bloss deshalb gelitten, weil sie Juden sind. Sie haben wenig Verständnis, wenn ein Jude den christlichen Glauben annimmt. Besonders für orthodoxe Juden stellt das Christentum eine feindliche Religion dar, die man als Bedrohung jüdischen Lebens empfindet. Glaubt ein Jude an Jesus, so scheint er sein Judentum aufzugeben. Es ist so, als habe die Synagoge eines ihrer Glieder an die Kirche verloren. Messianische Juden haben eine andere Sichtweise. Die meisten von ihnen sind enttäuscht vom orthodox-jüdischen Glauben, der ihnen wenig einladend erscheint. Geistlicher Hunger nach Gott treibt sie schliesslich dazu, selbst in ihrer Bibel zu lesen. Sie entdecken darin viele Hinweise auf den Messias Israels. Sie lesen, dass er leiden muss und wie ein Lamm zur Schlachtbank geführt wird, um die Strafe für die Sünden seines Volkes zu tragen (Jesaja 53,5-7). Traurigerweise wird dieses Kapitel, das die Leiden des Erlösers beschreibt, in der heutigen Synagoge schon lange nicht mehr gelesen. Lesen Juden auch das Neue Testament, beginnen sie Gottes Heilsplan mit Israel zu verstehen und erkennen nach und nach die Einheit beider Testamente. So entdecken viele durch den Glauben an Jesus ihre wahre Bestimmung als Teil des auserwählten Volkes und sind darüber hoch erfreut. Es ist, als wären sie nach einer langen Reise des Suchens endlich zuhause angekommen.

Überraschende Evangelien

Übrigens sind die Evangelien für sie eine grosse Überraschung, da diese entgegen ihrer Befürchtung nicht antisemitisch, sondern zutiefst jüdisch geprägt sind. Jesus wird darin als herausragender Mann des eigenen Volkes geschildert, der die Thora (fünf Bücher Mose) achtet, sie seinen Jüngern auslegt und sie vollkommen erfüllt. Josef Shulam, ausgebildeter Rabbiner und studierter Theologe, ist Pastor der Gemeinde Adonai Roi (Der Herr ist mein Hirte) in der Jerusalemer Narkisstrasse. Sein Empfinden beim Lesen des Neuen Testaments schildert er so: „Da fand ich nichts über Priester, Nonnen, Klöster, Rom, Protestanten, Erzbischöfe oder Weihnachten. Ich fand keinen christlichen Feiertag, alles war sehr jüdisch. Das erstaunte mich sehr und weckte mein Interesse.“ Gerade zum Glauben gekommen, hatte er in einer messianischen Gemeinde ein Schlüsselerlebnis. Er sah, wie ein Gemeindeglied seinem jüdischen Mitbruder die Kippa vom Kopf zerrte und zu Boden warf. Dieser peinliche Vorfall prägte sich tief ein und brachte Shulam auf die Idee, einen Weg zu suchen, wie Juden ihren Glauben an Jesus auf jüdische Weise leben können. 1981 gründete er die Organisation Netivya, was „Weg des Herrn“ bedeutet. Das Werk umfasst nicht nur eine messianische Synagoge, sondern auch eine Suppenküche, die monatlich 1'000 Mahlzeiten an Bedürftige austeilt. Ausserdem gibt es ein Zentrum für Schriftforschung und Bibelstudien über die Situation der ersten jüdischen Apostel und Gemeinden. Man arbeitet zusammen mit Professoren der Hebräischen Universität an einem kompletten jüdischen Kommentar zum Neuen Testament. Am Abend treffen wir Zvi Sadan, einen von Shulams engsten Mitarbeitern, einen waschechten Sabre (in Israel geborener Jude). Für Sadan ist es wichtig, dass ein messianischer Jude nicht nur treu zur Schrift, sondern auch zu seinem Volk steht. In diese doppelte Berufung sieht er seine jüdischen Brüder und Schwestern von Gott hineingestellt. Er erklärt: „Es geht dabei zwar nicht um eine Heilsentscheidung, aber immerhin um die Erfüllung biblischer Prophetie. Wir finden in der Schrift nur eine einzige Nation, die von Gott als Ganzes erwählt wurde, nämlich Israel. Wenn ein Jude Jesus erkennt, ändert sich der Ruf seiner Erwählung als Teil des jüdischen Volkes nicht. Denn Gottes Berufungen können ihn nicht reuen.“

Die schwierige Einheit

Wenn ein Jude seinen Glauben an Jesus auf jüdisch traditionelle Weise ausdrückt, wie kann er dann zur Einheit mit seinen nichtjüdischen Glaubensgeschwistern gelangen? Dieses Problem beschäftigte auch schon den Apostel Paulus. Der im Römerbrief skizzierte edle Ölbaum, dessen natürliche Zweige die jüdischen Gläubigen symbolisieren, bietet auch Platz für nichtjüdische Gläubige. Paulus beschreibt in diesem Bild das Spannungsverhältnis zwischen Juden- und Heidenchristen und warnt beide Seiten eindringlich vor Stolz und Unglauben. Nur in gegenseitiger Demut und in Abhängigkeit vom Messias werden sie ihren Platz in diesem Baum behalten (Römer 11,12-24). Die Einheit unter Christen ist in Israel allerdings eine enorme Herausforderung. Nirgendwo sonst in der Welt leben so unterschiedliche Kulturen so dicht gedrängt wie hier. Es gibt Einwanderer aus Äthiopien, Russland, USA, Indien, Skandinavien, Jemen, Schweiz, Argentinien, Marokko, Neuseeland, Polen oder Griechenland, um nur einige der 102 Herkunftsländer zu nennen. Jeder bringt seine Mentalität, seine Bräuche und Sprache mit. Zusätzlich lastet enormer politischer Druck von aussen und ständige Gefahr von innen auf dem noch jungen Staat. Allen Widrigkeiten zum Trotz formt sich erstmalig seit 2'000 Jahren wieder eine lebendige messianisch-jüdische Gemeinschaft in Israel.

Extreme Gegensätze

Ebenfalls in der Jerusalemer Narkisstrasse befindet sich Ofer Amitais Gemeinde, die sich im Baptistenzentrum versammelt. Er berichtet: „Wir sind eine hebräisch sprechende Gemeinde mit überwiegend jüdischen Mitgliedern, die aus mehr als zehn Ländern kommen. Das ist nicht leicht. Aber hier ist sowieso alles ein Kampf ums Überleben. Nicht nur geistlich ist das so, sondern auch im Natürlichen wird das deutlich.“ Amitai sieht im Gebet die wichtigste Aufgabe seiner Gemeinde, denn nur betend richte man seinen Blick allein auf Jesus. Er erklärt: „Wir haben innerhalb des messianischen Leibes Jesu extrem gegensätzliche Positionen. Einige betonen die jüdische Tradition, um sich dem eigenen Volk als authentische Juden zu zeigen. Andere von uns lehnen dies strikt ab und gehen ganz in der bereits gewachsenen Kirche auf. Der einzige Weg, unseren Kampf zu gewinnen, ist auf Jesus zu schauen.“ Lachend fügt er hinzu: „Aber denkt nicht, wir hätten nur Probleme! Wir haben auch viel Freude, besonders wenn ein Israeli zum Glauben an Jesus findet.“

Jeder kennt seinen Feind

Israel ist ein Land voller Gegensätze. Das gilt für die Landschaft genauso wie für ihre Menschen, und bekanntlich ziehen sich Gegensätze an. Ob das jedoch auf Araber und Juden zutrifft, ist zweifelhaft. Salim Munayer ist Araber, der ausgerechnet durch einen Juden, nämlich Josef Shulam, zum Glauben an Jesus kam. Ist das vielleicht der verborgene Grund für seine Sehnsucht nach Versöhnung zwischen beiden Völkern? Vor 13 Jahren gründete er das Werk Musalaha (arabisch „Versöhnung“). Er erzählt: „Mit fünf Jahren weiss hier jeder, wer sein Feind ist. Jüdische Kinder haben gelernt, keinem Araber zu trauen, und umgekehrt ist es genauso. Jede Seite denkt von sich: Wir sind die Guten, die anderen sind die Bösen’.“ Seine Erfahrung lehrte ihn, dass diese Feindschaft durch den Glauben nicht automatisch verschwindet: „Juden betonen die alttestamentlichen Verheissungen für das Land, in dem sie gesammelt werden sollen. Palästinenser betonen hingegen die Bedingungen des Neuen Bundes. In unserer Lage wurde mir Jesu Gebot der Feindesliebe wesentlich. Es bedeutet für mich, Juden zu lieben.“ Munayer veranstaltet Konferenzen und evangelistische Einsätze.

Gemeinsam in der Wüste

Seine Spezialität sind jedoch Wüstencamps, an denen junge gläubige Araber und Juden teilnehmen. Je ein Jude und ein Araber verbringen gemeinsam einen Tag zusammen in der Wüste. Sie müssen ihren Platz auf dem Kamelrücken und ihre Nahrung miteinander teilen. Sie verständigen sich über ihren Weg und suchen für jedes Problem gemeinsam eine Lösung. Die Wirkung ist grossartig! Einige kehren völlig verwandelt zurück, andere sind innerlich tief berührt. Anschliessend gibt es Gespräche über das Erlebte, und man beginnt, sich gegenseitig neu wahrzunehmen. Musalaha (http://www.musalaha.org) ist ein Zeichen der Hoffnung auf einem langen schwierigen Weg.

Eine „Ersatztheologie“

Der Historiker Gershon Nerel leitet die Kibbuzsiedlung Jad haShmona (Zum Gedenken der Acht), die als Konferenz- und Begegnungsstätte für messianische Juden und Christen dient. Finnische Christen gründeten nach dem Krieg diese Siedlung in den judäischen Bergen, nordwestlich von Jerusalem. Heute leben und arbeiten hier ausschliesslich christusgläubige Juden. Nerels Ausführungen über die Spannungen zwischen Juden und Christen gehen in die Tiefe: „Die Kirche sieht sich weitgehend im Austausch gegen Gottes Volk, die Juden. Sie ist an Israels Stelle getreten. Aus dieser Substitutionstheologie resultiert Misstrauen gegen das jüdische Volk. Im Antisemitismus, der sich heute besonders gegen den Staat Israel richtet, liegt das Problem.“ Auf den Konflikt unter Gläubigen in Israel eingehend, sagt er: „Arabische Christen sehen sich als Teil der bestehenden Mutterkirche, die eine langjährige Tradition hat. Diese Tradition hat sich von ihren biblischen Wurzeln weit entfernt. Von uns messianischen Juden erwartet man nun, dass wir uns in diese Kirche integrieren. Das ist ein Problem, denn ein Jude kann, wenn er gläubig wird, seine Nationalität nicht hinter sich lassen. Für ihn ist alles theologisch-national. Alles Göttliche hat zu tun mit der Nation Israel!“ Zuletzt mahnt er: „Nicht ein Mensch, sondern Gott hat die höchste Autorität. Der Messias ist Jude, und wir finden in der Schrift einen biblischen Zionismus. Gott liebt Zion! Er sorgte dafür, dass gerade auf diesem Flecken Erde die Nation Israel wiedererstand. Nur der wiederkommende Messias wird vollkommenen Frieden schaffen.“

Friedensvertrag im Herzen

In der nordisraelischen Hafenstadt Haifa besuchen wir das Gemeindezentrum in der Me’irstrasse. Es ist ein besonderer Ort, an dem Einheit unter Juden und Christen greifbar wird. Hier treffen sich unter einem Dach eine jüdisch-messianische und eine arabisch-christliche Gemeinde. Dem Gebäudekomplex angegliedert ist ausserdem das Ebenezer-Heim, in dem Christen und messianische Juden ihren Lebensabend verbringen. Die Begegnung mit Philip Saad und seiner Frau Violet zählt für mich zu den eindrucksvollsten der Reise. Er gründete die Arabische Baptistengemeinde, die sich in der Me’irstrasse versammelt. Unter den arabischen Pastoren ist er einer der wenigen mutigen Zeugen, die für eine heilsgeschichtliche Sicht Israels eintreten. Er glaubt an eine vollkommene Einheit unter messianischen Juden und arabischen Christen. Es beschämt ihn, dass sich weltliche Menschen um Frieden in Israel mühen, während Christen, die den Friedensvertrag im Herzen haben, es nicht ernsthaft versuchen. Für ihn sind die politischen Mauern im Land nicht das eigentliche Hindernis. Er sagt: „Die Mauer zwischen arabischen und jüdischen Brüdern in Israel ist noch viel höher. Auf beiden Seiten gibt es Gedankenansätze, die nicht an der Schrift orientiert sind. Daraus erwächst ein Zaun von gegensätzlichen Auffassungen, die zur Trennung führen und im Krieg enden.“ Saad strahlt jedoch grosse Zuversicht aus, die er auch begründen kann: „Als Jesus darum betete, dass alle seine Nachfolger vollkommen eins sein sollen, hat Gott ihn erhört. Denn wir wissen von ihm selbst, dass er allezeit vom Vater erhört wurde.“ (Johannes 11,42) Er erklärt: „Gott schuf einen neuen Menschen, der immer dann entsteht, wenn Jude und Nichtjude einander in Christus begegnen. Es stimmt, dass wir durch einen Zaun getrennt waren, aber Jesus beseitigte diese Trennung und hat aus beiden Eins gemacht.“ (Epheser 2,14-15) Saad betont: „Jesu Auftrag an seine ersten Jünger - sein Zeuge zu sein - ist auch heute noch gültig. Wir können ihn nur gemeinsam erfüllen, denn nur zusammen bilden wir den einen Leib Jesu.“

(idea Nr 66/2004 vom 7. Juni 2004)

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